Unruhe im Krankenhaus

 

Dieses Beispiel begegnete mir vorige Woche während des Einzeltrainings in der Lokalredaktion einer großen Regionalzeitung. Ich publiziere es hier – natürlich anonymisiert -, weil ich beobachtet habe, dass es symptomatisch ist für etwas, das mir immer wieder bei der Arbeit mit Redaktionen begegnet:

In unserem Streben, immer auf dem letzten Stand der Dinge zu sein (also “up to date”) und dies auch unseren Lesern zu vermitteln, torpedieren wir oft unsere eigenen Texte und hindern die Leser daran, sie zu lesen. Doch gerade darauf, dass Texte gelesen und nicht nur wahrgenommen werden, kommt es an. Davon lebt die Zeitung und behauptet sich gegenüber vielen anderen, schnelllebigen Medien.

Der Sachverhalt

Im vorliegenden Fall geht es um das Krankenhaus einer 22.000-Einwohner-Stadt. Dort wurden drei chirurgische Bereiche räumlich zusammengelegt, womit auch Veränderungen im Arbeitsalltag des Personals einhergingen. Diese Veränderungen wurden von den Mitarbeitern so intensiv empfunden, dass  das Gerücht aufkam, die Chirurgie des Krankenhauses werde geschlossen. Das Gerücht war so hartnäckig, dass es schließlich ein Kreisrat thematisierte und in der Sitzung des Kreistags vom zuständigen Sozialdezernat Antworten forderte. Die gab es noch nicht bzw. nicht in einem den Kreisrat befriedigenden Umfang. Deshalb kündigte er an, auf eine weitere Klärung zu bestehen.

Die journalistische Umsetzung

Die Lokalredaktion erfuhr auf der Kreistagssitzung von dem Gerücht und unternahm, was handwerklich geboten ist: Sie recherchierte an Ort und Stelle. Die Leitung des Krankenhauses war schnell zu einem Treffen bereit, und drei Führungskräfte erläuterten in einem Gespräch die Situation. Dabei versicherten sie, dass es keine Pläne gebe, die Chirurgie zu schließen. Gleichzeitig räumten sie aber ein, dass die Zusammenlegung der drei oben erwähnten Bereiche zu Unruhe unter den Mitarbeitern geführt hat und nicht alle von ihnen mit den Veränderungen zurechtkommen.

Das alles beschreibt der nun entstehende Aufmacher im Lokalteil ausführlich und korrekt. Auch kann sie anhand der vorliegenden Informationen und Rechercheergebnisse eine klare Nachricht formulieren: Die Chirurgie wird nicht geschlossen.

Das Problem

Mit dieser Nachricht und der Überschrift ist alles gesagt: Es gab da eine E-Mail und ein Gerücht, an dem aber nichts dran ist. Die Chirurgie bleibt, liebe Leser, und Sie dürfen sich nun anderen Artikeln oder gern auch anderen Medien widmen oder welcher ihrer Lieblingsbeschäftigungen auch immer. Zwar versucht die Redaktion, am Ende des Vorspanns eine gewisse Spannung aufzubauen, aber das wird schon durch die Überschrift konterkariert.

Die Alternative

Wenn wir wollen, dass die Leser unseren Aufmacher lesen und nicht nur wahrnehmen, müssen wir uns und unser Wissen ein Stück zurücknehmen. Die Leser wissen ja nicht, dass es diese Unruhe und das Gerücht gibt. Warum also sollten wir sie nicht bei diesem Wissensstand abholen, statt ihnen eine Nachricht zu präsentieren, deren Kernaussage “Es bleibt, wie’s ist” heißt?

Also schlug ich der Redaktion eine andere Überschrift und einen anderen Vorspann vor, und sie folgte meinem Rat.

Die Bedenken

Ganz wohl war der Redaktion zunächst nicht dabei, und es kamen Fragen und Bedenken auf. Ich schildere hier kurz, wie ich ihnen begegnete:

    • Unsere Recherche hat ergeben, dass die Chirurgie bleibt. Warum teilen wir das den Lesern nicht direkt und deutlich mit?
      Nachrichtlich wäre das völlig korrekt. Wenn wir uns aber allein davon leiten ließen, brauchten wir die Geschichte gar nicht zu erzählen.
    • Uns wird oft “Boulevardisierung” vorgeworfen. Ist die nicht gegeben, wenn wir die Unruhe so aufbauschen?
      Wir haben diese Unruhe weder erfunden, noch bauschen wir sie auf. Vielmehr wurden sie und das Gerücht im Kreistag thematisiert. Zudem ist die Tatsache, dass sich die komplette Leitung des Krankenhauses zum Gespräch mit uns einfindet, ein belastbares Indiz für den Ernst der Lage.
    • Nach unseren bisherigen Recherchen hat die Geschichte keine Auswirkungen auf die Patienten. Vielleicht hätten wir damit nicht gleich aufmachen sollen?
      In dem Krankenhaus werden dem Artikel zufolge jährlich 8.000 Patienten stationär behandelt. Wir dürfen also schon von einem recht großen Interesse ausgehen. Zudem handelt es sich um ein klassisches Muss-Thema, wie ich es auch in meinem Seminar Grüne Welle im Lokalteil immer wieder propagiere. Ob die Veränderungen wirklich keine Auswirkung auf die Patienten haben, sollte die Redaktion aufmerksam verfolgen.
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